Die ersten Nächte

Die Welt ist nur ein Durchgang voller Leiden,
Wir sind die Pilger, kommen, wandern, scheiden;
Tod ist das Ende jeglicher Beschwer´.


Chaucer, Die Geschichte des Ritters

 


Die ersten Nächte eines Kindes sind eine unruhige Zeit, die es im Wesentlichen damit verbringt, von seinem Erzeuger zu lernen und zu begreifen, wozu es geworden ist. Manche Erzeuger sind freundliche Führer und lehren ihre Nachkommen, mit dem Fluch fertig zu werden und die Gaben Kains einzusetzen. Kinder, die das Glück eines solchen Erzeugers haben, lernen, ihm als Vorfahren, Mentor und sogar Liebhaber zu vertrauen, und so entsteht eine feste Bindung zwischen beiden.

Andere Erzeuger sind grausam und diktatorisch. Sie behandeln ihre Kinder mit nicht mehr Mitgefühl als ein Lasttier. Diese Kinder lernen Hass und Angst und werden mit der Zeit wie ihre Erzeuger zu Tyrannen. Es kann jedoch noch schlimmer kommen: Manche Erzeuger verlassen ihre Kinder einfach und überlassen sie auf Gnade oder Ungnade der Nacht, geben ihnen keinen einzigen Hinweis, keinen Halt, keine Anleitung. Für diese Kinder ist das meist das Todesurteil.
Wen ein solches Schicksal trifft, der überlebt selten mehr als die ersten paar Nächte, ehe er der eigenen Unwissenheit oder den Fackeln aufgebrachter Bauern zum Opfer fällt. In dieser Periode der Lehrzeit, die einige Monate, durchaus aber auch Jahrzehnte dauern kann, gelten die Kinder als noch nicht flügge; sie sind noch keine vollwertigen Kainiten. Sie stehen unter dem Schutz ihrer Erzeuger und haben keine eigene Stellung in der kainitischen Gesellschaft. Erst wenn ein Nachkomme dem ältesten Vampir seiner Region in aller Form vorgestellt wurde, kann er den Titel Kind ablegen und wird zum Neugeborenen; das Geschieht im allgemeinen in einer Zeremonie, die den Übergang des jungen Vampirs ins Erwachsenenalter markiert.

Nun ist das Kind vollwertiges Mitglied im Geschlecht Kains. Die frühen Jahre spielen in der Entwicklung des Kindes eine entscheidende Rolle und prägen es für alle Zeiten. Die Kinder lernen die Extravaganzen der kainitischen Gesellschaft kennen, ihre Sitten und Gebräuche. Sie experimentieren mit ihrer neuen Identität und lernen, das Tier unter Kontrolle zu halten.
Manchen gelingt das nicht, das Tier in ihnen ist zu ungestüm, der Hunger zu stark. Solche Kinder müssen erschlagen werden wie tolle Tiere, damit sie nicht den Zorn der Sterblichen oder, schlimmer noch, anderer Kainiten auf sich ziehen. Die Glücklichen finden mit der Zeit ihr Gleichgewicht und arrangieren sich mit dem Tier in ihnen.
Diese Zeit ist auch eine der Enthüllungen: Das junge Küken erfasst nach und nach, was es heißt, einer der Untoten zu sein. In stiller Verzweiflung begreift das Kind, was es verloren hat und wozu es geworden ist. Die meisten werden mit ihrer eigenen Unmenschlichkeit konfrontiert und stellen fest, das sie nicht in der Lage sind zu fühlen, wirkliche Gefühle zu spüren.
Manche Kinder weigern sich, sich mit dem Kuss abzufinden und suchen irgendwann einmal das Licht der Sonne, um ihren Qualen ein Ende zu bereiten. Diejenigen, die letztendlich akzeptieren, was sie wurden und lernen, was sie brauchen, um zu überleben, werden zu wahren Kainiten.

(Quelle: Vampire aus der Alten Welt)



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